Gütersloh. Konzentriert fixieren seine Augen die Patientin. Ruhe bewahren. Tief Luft holen. Bereit? Bereit. Die linke Hand schiebt gekonnt den Kiefer nach unten – klappt den Mund auf. In der rechten Hand hält Lukas Dobschall den Endotrachealtubus. Das Hilfsmittel kommt bei einem Atem-Kreislaufstillstand zum Einsatz und stellt die Sauerstoffzufuhr beim Patienten sicher. Doch beim Einführen in die Luftröhre muss der Notfallsanitäter-Azubi aufpassen. Feingefühl und Geschick sind gefragt: Ansonsten könnte er der Patientin weitere Verletzungen zuführen oder die Zähne beschädigen. Diese Patientin würde es ihm aber wahrscheinlich nicht krumm nehmen: Übungspuppe Anna hat eine Mundhöhle aus Plastik.
Lukas Dobschall ist einer der vier ersten Notfallsanitäter-Auszubildenden beim Kreis Gütersloh. Er startete im ersten Ausbildungsjahrgang 2016. Nach drei Jahren, vielen Erfahrungen und Rettungseinsätzen hat er den Abschluss nun bald in der Tasche. „Die Ausbildung war sehr intensiv und praxisorientiert – selbst in der Schule“, erinnert sich Dobschall. Dort gibt es besondere Klassenzimmer, zum Beispiel die Wohnung von Erna und Willi. Die beiden sind zwei High-Tech-Puppen und ständig krank. Dann liegen sie im Pflegebett, müssen sich dann und wann übergeben und haben Herzprobleme. In Teams untersuchen die Azubis die Patienten und müssen herausfinden was ihnen fehlt. Dabei kommen technische Instrumente wie beispielsweise das EKG zum Einsatz. Doch Erna und Willi sind richtige Pechvögel: Garten- oder Autounfälle sind bei ihnen die Regel. In der sogenannten Arena treffen die Azubis erneut auf die Patienten. Diesmal müssen die Unglücksraben aus Fahrerkabinen gerettet werden oder haben sich mit der Kettensäge verletzt. Doch bevor die Azubis zum Einsatz bei Erna und Willi gerufen werden, dreht sich im ersten Lehrjahr alles um die medizinischen Grundlagen und die Kommunikation.
„Blutzucker 150!“ – „Blutzucker 150. Verstanden.“ – Beim Rettungsdienst herrscht ein sogenanntes geschlossenes Kommunikationssystem. „Dabei wiederholen wir die Aussagen des Kollegen, um sicher zu stellen, dass alles richtig übermittelt wurde“, erklärt Dobschall. Doch nicht nur im Team herrsche ein gewisser Code. Auch die Kommunikation mit den Patienten und Angehörigen steht als Unterrichtseinheit auf dem Stundenplan. „Das hat viel mit sozialer Kompetenz zu tun. Patienten und Angehörige sind oft traumatisiert und verängstigt.“ Und wie lernt man besser als in der Praxis? Dazu geht es zu einem vierwöchigen Pflegepraktikum ins Krankenhaus. „Der Kontakt zum Patienten ist dort natürlich viel intensiver. Beim Rettungsdienst betreuen wir die Menschen für etwa zwei Stunden, im Krankenhaus oft für mehrere Wochen.“ Um sich besser in die älteren Patienten und deren Notlage hineinversetzen zu können, dürfen die Azubis sogenannte Altersanzüge ausprobieren: Handschuhe simulieren einen Tremor, ein Overall verursacht Rückenschmerzen und Bewegungsbehinderungen. „Am schlimmsten fand ich die Brille. Damit hatte man eine vernebelte Sicht wie beim grauen Star.“
Zum Ende des ersten Jahres haben die Azubis den Dienst in ihrer jeweilige Stamm-Rettungswache gestartet: Dobschall hat das Team in Harsewinkel verstärkt. Ab dem zweiten Lehrjahr erfolgt die Ausbildung in Blockeinheiten: Schule, Rettungswache und Klinik-Praktika in der Anästhesie, im OP und auf der Intensivstation. „Das erste Jahr ist noch Schonfrist. Ab dann geht es richtig ab und die Azubis müssen Gas geben“, betont Ausbildungsleiter Daniel Hermes. Denn wenn der Notruf eingeht, zählt jede Sekunde. Am Anfang fahren die Lehrlinge mit und dürfen bald mit dem Ausbilder an ihrer Seite die Einsätze führen. Im dritten Jahr übernehmen sie sogar die komplette Einsatzleitung. „Das bedeutet, wir fahren den Wagen, stellen die erste Diagnose, entscheiden über die Behandlung und betreuen den Patienten bis zur Übergabe im Krankenhaus.“ Dobschall erinnert sich noch gut an seine ersten Rettungen: „Das Leben der Patienten hängt von unseren Entscheidungen und Behandlungen ab. Anfangs ist man sehr unsicher und muss aufpassen, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.“ Denn bei der Bestimmung des Krankheitsbildes folgen die Notfallsanitäter einem sogenannten ABCDE-Schema. Die Regel: Behandle das zuerst, was den Patienten zuerst töten könnte. „Nicht immer ist das, was am meisten schmerzt am lebensbedrohlichsten.“ An seine erste Reanimation werde sich der Notfallsanitäter-Azubi immer erinnern: „Der Patient konnte gerettet werden und drei Tage später ohne Beeinträchtigungen das Krankenhaus verlassen. Das war ein super Gefühl.“ Doch Dobschall und seine Kollegen können leider nicht jeden retten. Auch mit Patientenverlusten müssen die Azubis lernen umzugehen. „Sowas besprechen wir immer gemeinsam im Team. Das ist sehr wichtig, um das Erlebte zu verarbeiten“, erklärt Hermes.
Zwischen den Schichten in der Rettungswache und den Schuleinheiten stehen für die Azubis noch Praktika auf dem Lehrplan. Dobschall war in der Intensivstation sowie im Kreissaal und durfte dort zwei Geburten mit begleiten: „Das finde ich sehr wichtig, denn irgendwann wird man auch im Rettungsdienst mit einer Geburt konfrontiert. Das ist vorprogrammiert.“ Außerdem hat er während eines seiner Praktika am OP-Tisch assistiert. „Wir können Medikamente sowie Infusionen verabreichen und intubieren – das ist Teil unserer Ausbildung.“
„Die Ausbildung zum Notfallsanitäter ist sehr vielseitig und anspruchsvoll. Hier werden wertvolle Fachkräfte ausgebildet, die über hohe medizinische Kompetenzen verfügen“, betont Hermes. Der Notfallsanitäter arbeitet eigenständig, hat Zugriff auf etwa 25 Medikamente und kann diverse ärztliche Maßnahmen – von der Atemwegssicherung bis hin zur Thoraxentlastungspunktion – durchführen. Besonders die Skilltrainings und Großübungen gemeinsam mit der Polizei, der Feuerwehr, Hilfsorganisationen, der Kreisleitstelle und dem Fernmeldedienst seien effektiv. „Hier wird der Ernstfall simuliert und die Azubis können zeigen, was sie alles gelernt haben.“
Dobschall und seine Azubi-Kollegen beenden ihre Ausbildung Ende August. Doch auch danach müssen sie sich stets wissenschaftlich auf dem neuesten Stand halten und praktisch im Training bleiben.